unscharf
Wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, bedeutet das nicht, dass man nichts mehr sieht: Es fehlt einem nur der Fokus auf das, was wesentlich ist. Man kann nicht mehr ’scharf stellen‘ und somit nicht mehr jene Dinge ausblenden, die nicht in den Fokus gehören. Oft geht einem dasselbe so, z. B. wenn man in Geschäften die Auslagen betrachtet oder das Angebot sondiert. Zumeist läuft man dann ohne Etwas wieder aus dem Laden – Overload führt zu Lähmung, ein Zuviel an Information verhindert das Erkennen des Wesentlichen.
Ähnlich geht es häufig bei der Entwicklung jener Produkte zu, die letztendlich in diesem Regal landen; Auch da sieht man oft vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Da technologisch fast alles möglich ist, wollen die Hersteller möglichst viel dieser Palette auch anbieten. Um hier Klarheit zu schaffen, versuchen die Entwickler und Designer ihre Arbeit, gemäß dem Motto ‚less is more‘, auf die wirklich essentiellen Aspekte des Produkts auszurichten.
Dabei haben sie gelernt, hier methodisch vorzugehen: Ein Designprozess beginnt in der Regel mit einer ‚Recherche‘, wonach in der ‚Synthese‘ die gewonnenen Erkenntnisse verdichtet und für eine Ideenfindung aufbereitet werden. Anschließend können Konzepte entwickelt werden, die dann zu neuen Produkten und Diensten weiterentwickelt werden. Und wie so oft, beginnt das Problem gleich beim ersten Schritt: in der Recherche.
Grundlegender Bestandteil in einer Recherche-Aktivität für die Produktentwicklung ist in der Regel die Beobachtung: Mit ihr werden die Probleme erfasst, die z. B. ein Nutzer im täglichen Gebrauch erfährt. Zudem werden alle Trends ausgemacht und analysiert, wie diese Einfluss auf den Markt, die Mode und die Menschen nehmen. Gleichsam wird die Konkurrenz beobachtet, was sie tut und wie sie auf diese Themen reagiert. Und wie immer: Dort, wo beobachtet wird, braucht man eine scharfe Sicht- Fokus eben.
Wenn man diese ‚Recherche‘ wie ein Wissenschaftler im Labor betreibt, stößt man gleich auf das größte Problem: Es fehlt die Realitätsnähe. Denn Menschen in ‚Laboren‘ beobachten, wie sie die Produkte und Dienste nutzen und deren Brauchbarkeit hinterfragen, ist aufschlussreich für die Entwickler und erlaubt, den Entwurf zu optimieren. Allerdings gibt dies keinen Aufschluss darüber, ob man das fertige Produkt letztendlich kaufen und wirklich nutzen wird. Denn Labor-Nutzer sind ja keine wirklichen Konsumenten – Fokusgruppen hin oder her.
Wenn man allerdings Menschen ‚heimlich‘ beim Konsumieren beobachtet, draußen im ‚Feld‘ sozusagen, dann kann es schnell passieren, dass die Beobachtung verwässert und nicht die Daten liefert, die man für die darauf folgende Synthese oder Verdichtung braucht. Warum? Sobald man beim ‚Beobachteten‘ hinterfragen würde, warum er/sie dies oder jenes gerade macht, beeinflusst man ihn gleich in seinem Verhalten und damit auch die Recherche und deren Erkenntnis.
In der Wissenschaft gibt es dafür ein passendes Gesetz: die Unschärferelation!
Dieses besagt in kurzer Form, dass zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig exakt genau messbar sind. Beispiel? Wenn man beobachtet, wie ein Radfahrer durch eine Straße fährt, gibt es zwei ‚Eigenschaften‘: Fokussiert man ihn, dann erkennt man seine Person, die Beschaffenheit seines Rades, aber wie schnell er fährt und die Umwelt, in der er sich bewegt, jedoch nicht. Letzteres zu erkennen geht nur, wenn man die Umwelt fokussiert. Aber dann hinterlässt der Radfahrer darin eine Bewegung und wird ‚unscharf‘.
Was uns Heisenberg hier unter anderem lehrt, ist, dass man mit einer Unschärfe leben und somit eine Beobachtung immer ‚interpretieren‘ muss: Man könnte auch sagen, dass man eine gewisse Empathie braucht, um die wirkliche Erkenntnis aus der Beobachtung zu gewinnen.
Was scheint, ist selten, was wirklich ist.
Für die Entwickler und Designer bedeutet dies, dass die Beobachtung bestenfalls ein Ausgangspunkt für eine Erkenntnis ist, aber nicht als Fakt verwendet werden kann: Es braucht immer eine Interpretation des Beobachteten und ein Hineinversetzen in die wirklichen Anforderungen, die Konsumenten und Nutzer an Lösungen haben – ein Designdenken eben. Diese Denkweise ist die Grundlage, die nötig ist, neue Erkenntnisse zu gewinnen, für Lösungen, die Nutzer tatsächlich brauchen. Den Nutzer selber fragen hilft da wenig, denn wie heißt es so schön: Menschen wissen nicht, was sie brauchen, bis man es ihnen vorlegt.
Ob diese vorgelegten Lösungen dann auch wirklich von Nutzern angenommen werden, hängt wiederum ganz davon ab, ob sie in der Lage sind zu entdecken, was daran nun so ‚scharf‘ ist…
Nicht so einfach, in einer Welt, wo laut physikalischem Gesetz alles immer unscharf bleibt. Aber zum Glück gibt es ja die Möglichkeit, seine eigene Sicht zu fokussieren: Kunden machen das unbewusst mit dem Bauchgefühl der Hersteller, indem sie design-denken!