gemeinschaft
Die Wogen schlagen hoch, die Gemüter kochen über, Freundschaften zerfallen und Familien werden auseinandergerissen. Unsere westliche Welt zerfällt in sich feindlich und polarisierend gegenüberstehende Gemeinschaften, die, alle für sich, beanspruchen, die richtige zu sein. Und alle, die sich keiner Gemeinschaft zuordnen, geraten zunehmend in Erklärungsnot. So wurde ich schon mehrfach darauf angesprochen, ob ich denn ein Leugner wäre, weil ich mich nicht der Gemeinschaft verschreibe und deren Mitteilungen (auch Narrative genannt) auf den „sozialen“ Medien streue. Denn wer die Narrative der Gemeinschaft nicht teilt, der leugnet sie! Jede Person, die nicht Teil einer Gemeinschaft ist, wird so automatisch zum Leugner, Gefährder, Schwurbler, Faschisten, Kommunisten oder Woken. Daher reicht es auch nicht, den Ball flachzuhalten: Denn eine Nichtzusage ist wie eine Absage an die Gemeinschaft.
Das Attraktive an einer Gemeinschaft ist, dass sie an die mütterlichen Instinkte in uns appelliert und sich so klar von einer zumeist rational argumentierenden Gesellschaft unterscheidet. In einer Gesellschaft werden die Mittel immer dem Zweck untergeordnet und steht ein analytisches Abwägen im Zentrum. Wird in den Gemeinschaften gefühlt, so wird Gesellschaften analysiert. Und Gefühle wirken meist stärker als die Ratio. Daher fühlen sich viele zunehmend berufen, auf den Plattformen klarzustellen, zu welcher Gemeinschaft sie gehören – selbstverständlich immer zu den Guten!! Man platziert dann die Insignien der jeweiligen Gemeinschaft (Flaggen, Icons oder Ähnliches) auf seinem Profil und teilt seine Gefühle mit den anderen: Black lives matter, Slava Ukraine oder auch MAGA!
Jeder Versuch, den Ablauf der Dinge analytisch zu hinterfragen, wird in der Gemeinschaft sofort geahndet, denn es wird wie ein Zweifeln an der Zugehörigkeit und der Daseinsberechtigung der Gemeinschaft gedeutet. Wer sich in der Corona-Krise der Gemeinschaft entzog, indem er sich nicht injizieren lassen wollte, wurde dann auch mit allen Mitteln von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Ich berichtete schon darüber und nicht jede war davon angetan. Als mein Buchrating auf Amazon plötzlich von 5 auf 4 Sterne abfiel, kurz nachdem mein gepfefferter Leserbrief zu den Corona-Maßnahmen namentlich in der Tageszeitung erschien, wurde mir klar vermittelt, wie das „System Gemeinschaft“ funktioniert: Eine Meinung, die nicht die „gemeine“ ist, wird sofort abgestraft. Mein Fall war da noch harmlos. Manch anderen traf es wesentlich härter, sie verloren Job und Einkommen. Manche, wie Clemens Arvay, sogar die Lust am Leben.
Viele sorgen sich dieser Tage zurecht um die Demokratie, das Klima, die Wirtschaft, die Sicherheit auf den Straßen oder ihre Identität. Da ist meine Sorge, dass sich unsere Gesellschaft in eine Ansammlung von zerstrittenen Gemeinschaften wandelt, nur eine weitere Sorge. Wozu also diese Zeilen?
Nun, die Geschichte hat uns gezeigt, dass wir, als Gesellschaft vieler Nationen oder auch als Gesellschaft einer Nation, nur dann wirklich fortschreiten können, den Fortschritt erlangen, wenn wir „gesellschaftlich“ handeln, also analytisch, bedachtsam und „mit Begriff“, wie Ferdinand Tönnies es beschrieb. Denn nur Gesellschaften treibt ein Wille an, den sie sich selbst „aussuchen“, den sie immer neu ausverhandeln, der ständig im Fluss ist und somit offen für Änderung und Adaption. Dies erfordert eine offene und eben nicht „gemeine“ Geisteshaltung, die es ermöglicht, das Bestehende zu hinterfragen und neue Erkenntnisse zuzulassen. Dies bedeutet aber auch, dass Haltungen zur Disposition stehen, die einem persönlich nicht passen. Und das ist genau die Wesensart einer wirklichen Gesellschaft: Sie vereint den Widerspruch in sich. Dies ist allerdings ein Zustand, den die Gemeinschaft strikt ausschließt: In ihr findet nur das „Gemeine“ statt.
Daher ist es für mich, als erklärten Opportunisten und Anhänger einer offenen, progressiven Gesellschaft, ein Dorn im Auge, wenn sich Gemeinschaften aufmachen, die Deutungshoheit zu erlangen und beteuern, dass nur sie „die Guten“ sind, dass „die Wissenschaft“ sich einig ist. Sie bereiten den Weg in ein Zusammenleben, worin EINE Gemeinschaft wieder das Sagen hat und alle anderen ausgrenzt und marginalisiert, die ihr nicht angehören. Es mag sozialpsychologisch erklärbar sein, warum sich dies so wiederentwickelt (Jonathan Haidt schrieb ein großartiges Buch darüber: The Righteous Mind). Aber es verwundert schon, dass so viele studierte und aufgeklärte Menschen die Entwicklungen so fahrlässig falsch deuten. Und es ist daher so schwer, auf diese Entwicklung hinzuweisen, weil viele der „Gemeinschaftsanhänger“ nun mal wirklich glauben, dass sie Gutes tun, dass sie die Welt retten, die Demokratie oder die Familie verteidigen müssen! Dass meine lieben Nachbarn ihrem Bauchgefühl folgend auf der „Gegen-Rechts-Demo“ mitlaufen, ist ebenso bedenkenswert wie mein Freund, der jetzt, „weil’s reicht“, AfD wählen will. Jedoch muss man die Meinung der anderen nicht teilen, aber dafür einstehen, dass sie diese haben dürfen, sagte mal sinngemäß einer, der wusste, worum es geht.
Wer in eine Gemeinschaft eintreten möchte, soll das tun. Ich bin nicht der Meinung, dass Gemeinschaften grundsätzlich schlecht sind. Sie sind jedoch schlecht als Modell für ein Zusammenleben in unserer heutigen Zeit, mit all seinen Möglichkeiten und Herausforderungen. In einer Gesellschaft finden alle Gemeinschaften Platz, auch die schlechten. Ja, man kann in schlechter Gesellschaft leben. Oder noch deutlicher: Man muss! Nur wenn wir allen Facetten der gesellschaftlichen Möglichkeiten eine Daseinsberechtigung geben, haben auch die eigene Vorstellung und die eigene Meinung eine Daseinsberechtigung. Die Regel einer progressiven Gesellschaft sollte also nicht sein, andere auszuschließen, sondern das Ausschließen auszuschließen. Statt Demos „gegen rechts“ lieber Demos gegen all jene, die anderen ihren Daseinsgrund absprechen. Das bedeutet, dass sich jede Gemeinschaft innerhalb einer Gesellschaft zum Zusammenleben bekennen muss. Fanatiker, die ihren Willen den anderen aufdrücken wollen und diesen als alleingültig erachten, haben in einer Gesellschaft keinen Platz. Sie haben nur dann einen Platz, wenn der Fanatismus innerhalb ihrer Gemeinschaft gelebt wird und dort auch verbleibt. In einer Gesellschaft leben die Gemeinschaften miteinander.
Ein bedeutsamer Unterschied, den nicht jeder nachvollziehen will oder kann. In dieser Konsequenz demonstrieren die „Demokratieschützer“ eigentlich gegen sich selbst: Sie leiten ihre Argumente nicht aus einer Analyse der tatsächlichen Verfassungsfeindlichkeit anderer Parteien ab, sondern folgen einem Willen, der emotional moralisch motiviert ist, und agieren somit selbst verfassungsfeindlich, weil sie diesen Willen anderen aufzwingen.
Als ich meine Nachbarn fragte, in welchen Aspekten die „Rechten“ verfassungsfeindlich wären (allein rechts und radikal zu sein, wäre ja nicht verfassungsfeindlich), hatten sie so gar keine nüchternen Argumente, sondern das Gemüt kochte gleich über. Als ich dann fragte, wie es umgekehrt wäre, wenn die „Rechten“ so lauthals „gegen Links“ demonstrieren würden, ob das dann auch demokratisch wäre, bekam ich nur Kopfschütteln zurück.
Ich kann nachvollziehen, warum sie so handeln. Sie sind in einer gemeinschaftlichen Idee groß geworden, in der „das Gute“ eine eindeutige, klare moralische Größe hat. Ihre moralischen „Geschmacksnerven“ lassen nur eine Richtung zu, bei allem anderen wird ihnen übel. Mir wird übel bei dem Gedanken, dass es auf der rechten Seite wohl genauso aussieht. Auch dort sind die Geschmäcker spezifisch festgelegt. Ein Dilemma? Kann das je wieder gutgehen? Kommen die unterschiedlichen Gemeinschaften wieder zueinander und finden sich in einer Gesellschaft ein? Ich mache mir große Sorgen. Nicht, weil eine Gesellschaft nicht möglich wäre, sondern weil viele Menschen tatsächlich glauben, sie würden in einer leben und nicht erkennen, dass sie in einer Gemeinschaft gefangen sind!