wachsen

Meine Kinder sind aus dem Gröbsten raus, denn sie wachsen nicht mehr – das heißt, nicht mehr in der Länge. Fast schon vergessen sind die Nächte, wo wir Eltern ihre Glieder massierten, um so den Schmerz in den sich ausdehnenden Knochen zu lindern. „Du möchtest doch mal so groß sein wie ich, oder?“ versuchte auch schon mein Vater, mich zu beruhigen. Wachsen tut eben weh!

Auch nachdem wir ausgewachsen sind, geht es mit Wachstum munter weiter: Idealer Weise wachsen (oder ‚reifen‘) wir als Persönlichkeit weiter. Dieses Wachsen ist Teil der Evolution unserer Spezies: Die heranreifende Erkenntnis kann so von Mensch zu Mensch weitergegeben werden und somit das kollektive Wissen anreichern. Wachstum ist die vorherrschende Strategie in vielen Systemen, die uns umgeben: die Natur wächst und auch die Systeme, die wir selber geschaffen haben, wachsen.

Diese Strategie der inkrementellen Evolution erlaubt somit dem System, egal ob organischer oder auch ‚künstlicher‘ Natur, zu überleben: Indem sie zyklisch ‚wachsen‘, können sie sich an Veränderungen anpassen. Nach einer Periode des Wachstums folgt ein Ende, quasi der Tod, als Übergang und Humus für einen Neubeginn und gleichzeitige Veränderung des Systems.
Ob ein neuer Zyklus eine Besserung erwirkt, steht jedoch nicht fest: Daher wächst sich Manches aus der Welt – oder vegetiert suboptimal vor sich hin, was nun das wahre Übel ist!

Da wundert es nicht, dass manch einer, bei der Voraussicht einer negativen Entwicklung, Wachstum grundsätzlich beenden und alles einfrieren will. Denn groß und berechtigt dunkel sind die Auswirkungen, die die Entwicklung von menschgemachten Systemen eingeschlagen hat. Die Gier nach persönlichem Reichtum auf Kosten anderer ist schon vor Urzeiten als ‚Fehlwuchs‘ bezeichnet worden. Aber trotz der überlieferten Gebote handeln viele dennoch so, als ob es nur einen Zyklus gäbe: nämlich den, in dem sie sich gerade räkeln.

Dass große Teile der Ökonomie falsch wachsen, steht fest: Sie handeln und agieren so wie die Wasserrose, die so lange wächst, bis ihre Blätter die eigenen Wurzeln verdecken und damit sich selber das überlebenswichtige Sonnenlicht raubt – kurzum, sie kriegen den Hals nicht voll! In der Natur schlüge dann die sprichwörtliche dunkele Seite des Wachstums zu und würde das parasitäre Gewächs ruck-zuck eliminieren – aber wie verhält es sich bei von Menschen gestalteten Systemen?
So gesehen wäre Selbstvernichtung tatsächlich eine probate Lösung des Problems. Frage ist nur, ob das, was nach der Elimination übrig bleibt, wie bei der Wasserrose, Humus für ein verbessertes System liefern kann? Oder haben wir dann einen großen Berg (System-) Sondermüll?

Ein radikaler Stopp des ökonomischen Wachstums wird gefordert, damit der ökonomische Sondermüll uns nicht über den Kopf wächst. Eleganter scheint mir jedoch der evolutionäre Weg, das, was sich als Irrweg entpuppt, nach und nach aus der Welt ‚wachsen‘ zu lassen. Damit die Ökonomie in eine Richtung wachsen kann, wo sie keine negativen Einflüsse auf andere Systeme ausübt, oder sich selber das Sonnenlicht raubt, braucht es eine gestalterische Arbeit. Wir brauchen eine klare Vision vom ‚Biotop‘, in dem wir uns in Zukunft befinden möchten. Es ist eine ganzheitliche Sicht, die es bei der Systemsteuerung braucht und die es in der Wirtschaft und Gesellschaft zu kultivieren gilt.

Den ‚Blick über den Tellerrand‘ zu fördern, muss daher die Hauptaufgabe aller Maßnahmen sein, als Gesellschaft nachhaltig zu wachsen. Bildung heißt nicht ohne Grund so: Es braucht das Bild oder die Vorstellung einer besseren Zukunft, die zur Erkenntnis führt. Dabei sollten uns nicht die Bilder einer vermeintlich besseren Vergangenheit leiten, sondern klare Bilder einer verbesserten und sinnvollen Zukunft. Wir brauchen das Wachstum, damit wir die Systeme, die wir geschaffen haben, zum Besseren gestalten können. Es kommt nicht darauf an, ob, sondern wie und vor allem wohinwir wachsen!

Es gibt mir Hoffnung zu sehen, dass sich Design-Studierende in ihren Arbeiten mit Optionen für nachhaltiges Wachstum auseinandersetzen und Alternativen aufzeigen. (Soweit ich mich erinnere, waren die Themen bei meiner Diplomierung vor 25 Jahren ganz andere – da dreht sich alles um Technologie oder die ‚schöne Form‘.) Ob nun Gestaltungsvorschläge zur Share-Economy, Biomimicry als Designgrundlage oder einfach nur grundlegende Gedanken zum Sinn und Unsinn des klassischen Managements: Wenn junge, wachsende Menschen sich solcher Themen widmen, dann hat man Potenzial, weiteren Fehlwuchs korrigieren. Genau wie bei einer Gebisskorrektur wird es viel Geduld, Disziplin und Ausdauer fordern, gepaart mit der Hoffnung, dass alles später besser wird. Diese Hoffnung gilt es zu schüren und zu fördern, damit sie nicht aufgeben und ihre Optionen mit Geduld, Disziplin und Ausdauer wirklich umsetzen.

Einfach wird es nicht für sie werden, denn die Verlockungen, es der Wasserrose gleich zu tun und sich im Sonnenlicht treiben zu lassen, sind groß. Denn richtig wachsen tut eben weh!

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  1. harald auer sagt:

    Lieber Jan-Erik, wieder einmal kann ich bei deinem aktuellen
    Thema `Wachsen` aus eigener Erfahrung mit dir mitfühlen!

    Das physische Wachsen ist ein Prozess, der sich in all den
    Jahrhunderten kaum verändert hat, außer dass die Kinder von heute immer
    schneller und höher wachsen, da einfach die Randbedingungen viel besser sind. Allerdings
    mental werden die Kleinen heute derart gefördert und gefordert, dass sie
    bereits in jungen Jahren geistig viel weiter sind als wir anno dazumal. Aber das
    ist andererseits von einer Generation zur nächsten auch schon immer so gewesen.
    Die checken schon so viel, denken vernetzt und leider auch sehr materialistisch
    – schon vor zwei Jahren schlussfolgerte mein jetzt Siebenjähriger: Gell Papa, die
    Mama ist die Chefin – Warum? Na weil ihr die Wohnung gehört!

    Was mir allerdings bei all diesem Wahnsinn abgeht, ist der fehlende
    Respekt und die Demut der Kleinen, die in diese Wohlstandsgesellschaft geboren
    worden sind. Einerseits toll, dass sie das Glück haben in scheinbarem Frieden
    aufzuwachsen, andererseits mischt sich das mit dem unguten Gefühl, was ihnen da
    alles in naher Zukunft noch droht. Vielleicht ist es ein gewisser Selbstschutz
    unserer Kinder, so überheblich und arrogant wie die Seerose zu agieren, um in
    all den immer bedrohlicher werdenden Multimedia-, Konsum-, Arbeitsplatzmangel-,
    Klimakatastrophen- und Sozial/Beziehungsverwahrlosungsstürmen vordergründig nicht
    unter zu gehen? Da wir selbst – oder ich zumindest – in all diesen Strudeln täglich versuchen einigermaßen an der
    Oberfläche zu bleiben, ist es wahnsinnig schwierig, unseren Kids hier einerseits
    die notwendige Robustheit und Ellbogentechnik (Seerosentaktik), aber auch
    gleichzeitig die immer wichtiger werdende Sensibilität für die kommenden
    Herausforderungen mitzugeben.

    Aber es gibt immer wieder so Momente, wo ich mir denke `Alles
    wird gut, nichts macht mir Angst` – frei nach einer Lied Textpassage meiner
    Lieblingssängerin Dota Kehr (http://www.kleingeldprinzessin.de/).
    Vor allem dann, wenn unsere Kinder aus sich heraus mit dem, das man versucht
    hat ihnen mitzugeben, selbst initiativ werden und eine eigene Identität/Persönlichkeit
    entwickeln. Aktives Musik machen, aber auch sich für die Vielfalt von Musik zu
    begeistern gehört da sicher auch dazu. Und wie in der Liebe, ist es immer
    interessanter, wenn man aus der Masse heraussticht und nicht einem Ideal/ Einheitsbild
    nachhechelt. Dota Kehr singt dazu so treffend einfach – `Meide die Eichen
    (alles Bekannte und Festgefahrene), finde den Anderen unter den Gleichen`.

    Vielleicht ist es ja präziser den Zeitpunkt des (physischen)
    `Er-wachsen werdens` durch das (geistige) `Er-wachen´ im Sinne einer geistigen `Erkenntnis`
    zu ersetzen!